ERWIN SCHWENTNER

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PRESSE: Die vielen Gesichter des Doktor Schwentner / Von Peter Strasser

Zur Ausstellungseröffnung von Erwin Schwentner am 26.11.84 im Krainerhaus

Die hier rundum zur Schau gestellten Kopfplastiken von Erwin Schwentner sind mir fast alle gut bekannt. Aber, ich muß gestehen, ich habe sie bisher immer nur mit den Augen genossen, kaum in Gedanken mich um sie bemüht. Anschauung indessen ist ohne die Anstrengung des Begriffs nicht möglich. Die folgenden Notizen versuchen, wie fragmentarisch auch immer, dieser Einsicht Rechnung zu tragen.

Es gibt einen sehr alten, sehr zweideutigen Traum: den im eigentlichen Sinne physiognomischen. So alt wie die Menschheit (und gewiß noch älter) ist die Fähigkeit, das Gesicht des Anderen als Ausdrucksgestalt zu erleben. Angst, Zorn, Trauer, Freude und viele andere Gefühle offenbaren sich im Zusammenspiel der Teile des Gesichts. Doch jener Traum - man weiß nicht, wann und wo er zunächst geträumt wurde - sucht am Gesicht des Anderen nicht einzelne Seelenbewegungen, sondern die ganze Seele. Hinter der oberflächlichen, immerfort bewegten Schrift der Affektzeichen, die das Gesicht flüchtig heimsuchen, gibt es demnach eine tiefere, unbewegliche Zelchenschicht: ins Antlitz geschrieben steht dem Menschen ein für allemal, was er in Wirklichkeit sei-, jedem Gesicht ist als das totale Stigma die Persönlichkeit seines Trägers unauslöschlich eingeprägt. So lautet die Lehre der Physiognomik.

Die Zweideutigkeit des physiognomischeu Traums ist offenkundig. Daß der Stoff, aus dem wir Menschen sind, in Wahrheit ein feinmaschiges Zeichengewebe sein möge, gleichsam transparent zur Seele des Anderen hin - dies ist das Verlangen nach dem Ende der Einsamkeit und der Gewalt, wie sie durch das Fleisch und die Endlichkeit in die Welt kommen, dadurch, daß alle Menschen ein Abgrund an Fremdheit trennt. Wenn wir ganz und gar Zeichen wären, dann könnten wir uns ganz und gar ineinander verlieren. Aber das physiognomische Verlangen ist auch getragen vom Impuls der Gewalt. Weil der Andere immer der Fremde ist, muß er möglichst bis in den letzten Seelenwinkel hinein ausgeforscht werden. Daher konzipierte bereits Lavater im 18. Jahrhundert seine Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe auf das Wahnwitzigste für alle möglichen ordnungspolitischen Zwecke.

Doch schon seit Nietzsche rumort eine der Physiognomik prinzipiell feindlich gesinnte Frage, eine Frage, die heute von den Kultphilosophen Frankreichs exzessiv abgehandelt wird. Bin ich überhaupt Einer, bin ich nicht vielmehr Mehrere, bin ich nicht unabsehbar Viele? Hier wird, namentlich in der Figur des Vielfach-Gespaltenen, des Multi-Schizo, ein Ende des physiognomischen Traums, d. h. der ihm innewohnenden Gewalt, herbeiphantasiert. Allerdings, um welchen Preis? Da gab es ja auch eine Vision der Nähe menschlicher Wesen, ihrer gegenseitigen Anverwandlung ohne Verdinglichung des jeweils Anderen. Wird diese Vision ad acta gelegt, dann droht die Verharmlosung neuartiger und schrecklicher Gewalten. Wo früher eine Identität war, ein Ich, das kraft seiner Einheit den Zerstückelungsbemühungen der Macht, der Instrumentalisierung einzelner Persönlichkeitsfunktionen, Widerstand leisten konnte - das Stichwort hierzu lautete "Entfremdung" -,da gibt es gemäß den Schizo-Szenarien kein entfremdetes Bewußtsein mehr und folglich auch kein Bewußtsein der Entfremdung, das zum Potential des Widerstandes werden könnte.

Den Widersprüchen der Physiognomik entkommt der Künstler nicht...